Winterschnitt im Weinbau: der richtige Zeitpunkt
Eine der ersten Tätigkeiten im Rebjahr ist der Winterschnitt. Die Entscheidung, wann dieser durchgeführt werden soll, gehört somit zu den ersten die gefällt werden müssen. Manche Betriebe schneiden früh, bereits im Dezember oder Januar, andere warten bis in den Spätwinter oder beginnenden Frühling. Beides kann sinnvoll sein – es hängt von Lage, Sorte, Arbeitskräfteverfügbarkeit und Risikobereitschaft ab.
Ein früher Winterschnitt – verstanden als finaler Schnitt auf die festgelegte Augenzahl bereits im Dezember oder Januar – ist eine betriebsstrategische Weichenstellung mit klaren Vorteilen, aber ebenso klaren Risiken. Wer ihn einsetzt, tut dies meist aus arbeitswirtschaftlichen Gründen: Der Winter bietet lange, ruhige Zeitfenster, das Personal ist verfügbar und die Arbeitsbelastung im Vorfrühling wird entschärft. Tatsächlich kann so ein früher Schnitt die betriebliche Belastung und das Risiko wetterbedingter Engpässe im Spätwinter deutlich reduzieren. In großen Betrieben oder in Lagen, in denen der Februar traditionell nass und windig ist und die Flächen schlecht begehbar sind, ist dieser Vorteil nicht von der Hand zu weisen.
Auch aus Sicht der Pflanze lassen sich positive Argumente finden: Wer sauber, bei trockener, kalter Witterung schneidet, erzeugt präzise Wundflächen und entfernt frühzeitig mögliche Infektionsherde (Fruchtmumien und abgestorbenes Holz). Zudem erlaubt der frühe Schnitt eine ruhige, konzentrierte Qualitätsarbeit. Schulung, Standardisierung und Kontrolle funktionieren im ruhigen Winter oft besser als im hektischen März. Ein einheitliches Bild dessen, was „eine gute Rute“ ist, verhindert inhomogene Laubwände und Stichproben schaffen Transparenz: Stimmt die Augenzahl? Sind die Zapfen gut positioniert? Ist der Schnittabstand zum Auge passend? Liegen große Wunden dort, wo sie den Saftstrom am wenigsten stören?
Diesen Vorteilen stehen aber auch einige Nachteile gegenüber. Zunächst das Thema Holzgesundheit: Wer bereits im Dezember, oder sogar schon im November, mit dem Rebschnitt beginnt, hat frische Schnittwunden in einer Jahreszeit, in der feucht-milde Perioden mit hoher Sporenlast durch Holzpilze noch auftreten können. Besonders wenn grosse Schnittflächen im Altholz erzeugt werden, was bei der Strecker-Erziehung häufiger vorkommt als bei anderen Erziehungsarten, steigt so die Wahrscheinlichkeit, dass Eutypa- oder Esca-Infektionen auftreten und zu langfristigen Schäden führen.
Physiologisch gesehen verstärkt der frühe Schnitt das Problem der aufgehobenen apikalen Dominanz. Den basalen Knospen fehlt dann die hormonelle Bremse, der Austrieb setzt tendenziell etwas früher ein – genau an den ertragsrelevanten Augen. In Lagen mit regelmässigen Strahlungsfrostereignissen im April oder Mai, ist das ein reales Risiko, nicht nur für den Ertrag, sondern auch für den weiteren Stockaufbau. Bei der Strecker-Erziehung lassen sich jedoch Gegenmassnahmen planen, etwa eine Frostrute stehen zu lassen oder die Augenzahl vorübergehend zu erhöhen. Beides funktioniert, verlangt aber, dass man diese Optionen von Beginn an im Arbeitsplan berücksichtigt. Wer früh finalisiert, verzichtet zudem bewusst auf Informationen, die erst später sichtbar werden, zum Beispiel Schäden durch Winterfrost.
Gleichwohl ist ein pauschales Verdikt gegen den frühen Winterschnitt nicht sachgerecht. In milden, windoffenen Lagen mit geringem Winter- und Spätfrostrisiko kann er sinnvoll sein, insbesondere wenn keine Holzkrankheiten vorkommen und die Schnittqualität hoch ist. Dort, wo z. B. ein mechanischer Vorschnitt und ein nachfolgender Feinschnitt Hand in Hand gehen, entsteht eine ruhige Winterarbeitskette. Der Vorschneider reduziert die Masse, der Feinschnitt setzt kleine, saubere Wunden, das alte Holz wird stressfrei aus dem Drahtrahmen gezogen, die Anlage ist im Frühjahr geordnet und bereit für Draht- und Instandhaltungsarbeiten. Auch die Arbeitssicherheit profitiert nicht selten: Trocken-kalte Tage im Dezember und Januar sind für Hanglagen oft sicherer befahr- und begehbar als taufeuchte Märztage. Die Möglichkeit einer «echten» Frostrute besteht nach einem maschinellen Vorschnitt aber nicht mehr.
Für frostgefährdete Standorte überwiegen daher meist die Nachteile. Hier spielt die Strecker-Erziehung ihre Stärken aus, wenn der finale Schnitt und das Binden bewusst spät erfolgt (ab Wollestadium). Das lässt die physiologische Bremse der langen Rute länger wirken, verzögert den Austrieb um mehrere Tage und verkürzt gleichzeitig das Infektionsfenster großer Wunden, weil der beginnende Saftfluss potenziell Sporen „ausspült“. Der späte Schnitt bietet zusätzlich die Flexibilität, die finale Augenzahl an die Parzellenleistung und die aktuelle Saisonprognose anzupassen: schwächere Stöcke etwas entlasten, starke Stöcke auf Zielniveau bringen, Reserveaugen bis nach der kritischen Phase stehen lassen. Wer dennoch aus Kapazitätsgründen früh schneiden muss, kann den Schaden begrenzen, indem er systematisch Reserveholz belässt: eine zweite, längere Rute je Stock als Versicherung, Ersatzzapfen konsequent zweiäugig, Schnittpunkte hoch und von den Augen abgesetzt, große Wunden aggregiert im weniger saftführenden Holzbereich. Werkzeughygiene (sorten- oder blockweise Desinfektion), Schnitte nur bei trockener Witterung und, wo es ins Betriebskonzept passt, selektiver Wundschutz auf Altholz sind keine zwingende Notwendigkeit, gehören aber zum Risikomanagement.
Arbeitswirtschaftlich lässt sich der Zielkonflikt oft durch Staffelung lösen: Ein moderater Vorschnitt im Spätherbst reduziert Hebelarme und Windangriffsfläche, ordnet die Anlage und spart später Zeit, ohne die zentrale Steuerungsoption des späten Feinschnitts zu verlieren. Dies lässt sich auch beim manuellen Schnitt gut umsetzen, indem z. B. der alte Strecker bereits beim Vorschnitt abgetrennt und ausgezogen wird. Die finale Entscheidung über Augenzahl und Rutenwahl wird dann verschoben in ein Fenster, in dem Frostrisiko, Bodenbefahrbarkeit und Arbeitskraftkapazität realistischer eingeschätzt werden können. Diese Zwei-Phasen-Strategie verbindet die Vorteile der Winterentzerrung mit dem biologischen Mehrwert später Wundsetzung – ein Kompromiss, der erfahrungsgemäß die stabilsten Ergebnisse liefert.
Unterm Strich gilt: Ein früher Winterschnitt ist ein taugliches Werkzeug für bestimmte Lagen und Betriebsmodelle, wenn Schnittqualität und -konzept stimmen. In frostexponierten Parzellen und Beständen mit Holzkrankheiten-Historie kehrt sich der Vorteil jedoch schlimmstenfalls ins Gegenteil. Die robuste Standardstrategie bleibt deshalb der späte Winterschnitt – allenfalls auf auf Basis eines maßvollen mechanischen oder manuellen Vorschnitts. Lange Rute(n) als physiologische Bremse, präzise kleine Wunden abseits der Augen, vitaler Ersatzzapfen als strukturelle Versicherung – und die Bereitschaft, endgültige Entscheidungen so spät zu treffen, dass sie von Wissen statt von Wunschdenken getragen sind.